Erwin Steiner: Wirksame Filmatmosphäre, 1939
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Erwin Steiner: „Wirksame Filmatmosphäre“, 1939, Originalmanuskript in der Erwin und Gisela von Steiner-Stiftung, Nachlass von Gisela von Steiner, www.erwin-steiner.de
Überreicht von Erwin Steiner, München
Türkenstr.103/ 3 u.4
Wirksame Filmatmosphäre.
Ein Beitrag zur Film-Dramaturgie von
Erwin Steiner (Kinoklub, früher B.d.F.A.München)
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Wir waren im Kino, in einem ganz kleinen Vorstadtkino. Auf seiner Leinwand rollte sich ein alter, ziemlich mitgenommener „Wildwestfilm“ ab. Nun aber war das Merkwürdige, daß wir dessen Reiterkunststücke und Sensationen gar nicht als solche hinnahmen. Es interessierte uns nicht, was der Held des Films machte, sondern wie er es machte. Die Handlung, eigentlich eine Fabel, wurde von der ungestümen, sichtbaren Bildfolge völlig aufgesogen. Reiter, Pferde und jagende Landschaft waren eins, von einem Schöpferwillen des Regisseurs für einander erschaffen, zugleich äusseres und inneres Geschehen, Raum und Zeit. So überkam uns trotz der Belanglosigkeit des Stoffes jene seltene, erhöhte, beschwingte Stimmung, wie sie uns die Poesie übermittelt.
Die überzeugende Kraft dieses schlichten Films lag also in seiner künstlerischen Einheit: Wir könnten von ihm nicht sagen, er ist gut, das Manuskript aber schlecht. Denn indem wir einen tatsächlichen Vorgang sahen, erlebten wir ihn zugleich. Ein Unfall auf der Straße mag uns tief erschüttern; trotzdem ist er – im Film wiedergegeben – keine Kunstäußerung. Er wird es erst, wenn uns die Mittel der Kunst über die sichtbare Form der Ereignisse hinaus innere, seelische Vorgänge erkennen lassen. Ist das Leib- Seele-Prinzip der Psychologie der tiefe Quell jeder Kunst, so muß auch der künstlerisch wertvolle Film das Seelische entsprechend gestalten.
Filmgestalten, deren Typus uns bisher fremd war, werden in einer so innerlichen Verbundenheit zu ihrer Umwelt gezeigt, daß wir an allen ihren seelischen Erregungen unbedingt Anteil nehmen müssen. Die Gebärde des Spielers ist „durchsichtig“ geworden; hinter der unmittelbar sichtbaren, visuellen Erscheinung des Filmbildes erkennen wir ein anderes, verborgenes Geschehen von tieferer Bedeutung. Die „gedankliche“ Tiefe des geschriebenen und gesprochenen
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Wortes findet ihre Parallele in dem bildhaft-gegenwärtigen Erleben innerster Geheimnisse.
Alles, was uns ein Film zu sagen hat, muß einmal auf seiner Oberfläche fixiert sein. Sein poetischer Gehalt kann sich deshalb ebenfalls nur durch visuelle Mittel ausdrücken. Diese, Darsteller und Spielraum einer Szene, schaffen zusammenwirkend die „filmische Atmosphäre“. Sie ist im Aufbau eines Filmes primär, da wir mit Erfolg erst die Atmosphäre festlegen, ehe wir den Trägern der Handlung Gestalt geben. Ein Film wird auch umso stärker und überzeugender sein, je gewissenhafter diese Atmosphäre, der Einklang von Außen- und Innenwelt durchdacht und ausgebildet ist.
Die Atmosphäre ist kosmisch eine Art Ausdünstung, die alle Gebilde vom Sonnenball bis zum Mikrotierchen, umgibt. Jedes Medium schafft sich seine eigene Umwelt, ohne die es nicht existieren kann. Auch Mensch und Umwelt gestalten einander: Kraftvoll hinter seinem Pfluge schreitend ist der Bauer nicht etwa allein durch seine Scholle so geworden, seine Kraft, seine Heimatliebe schuf wiederum die Scholle.
Wenn wir Amateure uns mit der Aufgabe befassen, einen Spielfilm zu drehen, so stehen uns in den allermeisten Fällen keine Berufsspieler zur Verfügung. Trotz genauer Proben werden uns schon die ersten Aufnahmen zeigen, daß wir uns auf die filmische Gebärde unserer Darsteller nicht immer verlassen können. Mit einer bewussten Anwendung der filmischen Atmosphäre aber vermögen wir manche Mängel der Darstellung zu überbrücken und unseren Filmgestalten jenes Leben zu geben, das Typus und Persönlichkeit, äußere Erscheinung und Innenwelt, vereint. Aber nicht nur vom Spielfilm, auch von unseren Wochenend- und Reisefilmen verlangen wir Spannung. Spannung aber ist erregte Stimmung und jede Stimmung bedeutet für uns wiederum „filmische Atmosphäre“!
Die Handlung eines vorbildlichen Filmspiels sei ganz in seine Atmosphäre getaucht. Diese, einmal festgelegt, gibt durch die große Bedeutung der sichtbaren Dinge im Raum dem Film seine spezielle Färbung. Die Gestalten des Drehbuchs setzt der Film einerseits in visuelle Gebärde um, anderseits trägt er die Latenz ihres Innenlebens nach außen in die sichtbaren Dinge der Umwelt. Wir werden also den Spielraum unserer Szene nicht als dekoratives Bei-
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werk aufzufassen haben, vielmehr soll die ganze Bildfläche dieselbe Stimmung ausstrahlen, die in den Gebärden der Darsteller enthalten ist. Ein Film, der alles Schleppende und Überflüssige vermeidet, wird sich auch in seinem Spielraum präzis ausdrücken, niemals gleichgültigen, passiven Charakter annehmen. Seelische Konflikte sollen aus den „Umständen“ heraus erwachsen. Ebenso darf uns die Welt der umgebenden Dinge nicht mehr und vor allem nichts anderes zu sagen haben, als uns die Darstellung selbst übermittelt. Ein Film, der ähnliche Erwägungen unterlässt, wird uns keine innere Wärme geben können: Es sei an die innere Leblosigkeit oberflächlicher Verfilmungen von literarischen Stoffen sowie an den isolierten, „ungebundenen“ Prunk so mancher Ausstattungsfilme erinnert. Vor zwei Fehlern aber wollen wir Filmamateure uns besonders hüten, nämlich große, ungewöhnliche Ideen mit unzulänglichen Mitteln darzustellen, ferner flüchtig durchdachte Ideen zu realisieren, indem man dem Auge das geben will, was die Idee nicht geben kann.
Der filmischen Atmosphäre liegt der Spielraum, oder, wie Pudowkin ihn nennt, der „filmische Raum“ zu Grunde. Dieser ist selbst bei reiner „photographischer“ Wiedergabe der Wirklichkeit selten vollkommen ähnlich. Vielmehr wird meist durch die Montage zeitlich oder räumlich getrennter Aufnahmen eine künstliche Realität geschaffen. Ferner kann der filmische Raum frei erfunden sein durch Ineinander kopieren verschiedener Bildteile, Vervielfachung, Überblendung etc. und vermag schließlich rein abstrakte Formen anzunehmen.
Die filmische Atmosphäre kann nun von verschiedener, besonderer Lebensart sein. Sie vermag ebenso das Ureigene eines Volkes einer Klassenschicht, einer Familie auszudrücken, wie auch den Charakterzug eines Einzelnen, z. B. der Hauptgestalt, zu enthüllen. Diese letzte Möglichkeit, das verborgene Innenleben eines Individuums durch die Dinge und Erscheinungen der Umgebung zu „realisieren“, scheint nun durch D. W. Griffiths Regie Bedeutung erlangt zu haben. Gerade jene Filme, in welchen er größte Ausdruckskraft erreicht, bezeugen dies. Nun aber hat sich Griffith nicht damit begnügt, die psychologische Erkenntnis unseres Innen- und Außenlebens einfach in die Filmsprache umzusetzen. Neues schaffend, erweitert er den markanten Unterschied zwischen Film und Theater.
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Eine Theatervorstellung bedeutet nicht für alle dasselbe: Einer hängt an den Lippen des Schauspielers, während die Blicke anderer an seiner Weste, der Kulisse, an nebensächlichsten Dingen haften bleiben. Der Film aber zwingt alle ohne Ausnahme nur das zu sehen, was für das Geschehen von Wichtigkeit ist. Er zeigt uns nicht Beine, wenn Gesichter erschüttern sollen.
Griffith geht weiter: Über das Visuelle des Filmbildes hinaus z w i n g t er uns, an allen Regungen und seelischen Affekten seiner Gestalten teilzunehmen. Verborgenes, Unsichtbares wird uns sichtbar durch eine natürliche Welt der Erscheinungen. Diese ist sanft und ungestüm; menschlichen Regungen entsprechend, ist sie Gut und Böse. Nicht nur das Gesicht des „Helden“ ist Seele und Schicksal, bis in seine letzten Winkel hinein vergegenwärtigt diese bewegenden Mächte das Bild. Optische Darstellungen drohender Naturkräfte, Wasserfälle, Stromschnellen, berstende Eisschollen, so sehr sie unser Auge fesseln, sie sind hier keine Sensation: Ein Flüchtling hetzt durch einen Schneesturm, dem er kaum Herr zu werden vermag. Sein innerer, seelischer Kampf ist zugleich sein äußerer!
Die sprühende Lebendigkeit der Regie Griffiths konnte auch auf deutsches Schaffen nicht ohne Einfluß sein. So erkennen wir in vielen unserer Filme, insbesondere in jenen, die sich vorwiegend in freier Natur abspielen (Berg-, Schneeschuhfilme etc.), dieselbe, bewusste Verknüpfung innerer und äußerer Gewalten. Der Film „Menschen im Käfig“ ist für eine solche Bildführung bezeichnend: Seelenkämpfe bis zur Katastrophe unheimlich gesteigert, finden ihr Gegenspiel in dem Rauschen und Toben der Wogen, dem Heulen und Stürmen rings um den einsamen Leuchtturm.
Die Innerlichkeit unserer Anschauung aber führte uns dazu, auch mit anderen, unserer Empfindung näherliegenden Mitteln dasselbe Endziel zu erreichen. Der kultivierte, deutsche Spielfilm, der sich auf wenige Gestalten innerhalb einer klaren Handlung beschränkt, bedient sich gerne einer Darstellungsweise, wie sie in der Malerei als Impression“ bezeichnet wird. Wir nehmen die Natur realistisch auf, aber bringen immer nur einen Ausschnitt: Statt einer Landschaft zeigen wir einen Baum, statt der Straße eine Hausecke, statt des Zimmers einen Tisch. Das Maß seelischer Vorgänge drückt sich also hier nicht in an sich lebendigen und packenden Naturerscheinungen (Sturm etc.) aus, inneres Erleben wird meist versinnbildlicht durch leblose Dinge (Flasche, Spiel, Geldschein, Waffe).
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Eine Kamera umkreist den Spielraum, bleibt an irgendetwas haften. An sich oder an einem anderen Schauplatz des Films vollkommen belanglos, hat uns seine Anwesenheit als zwar stummer, aber trotzdem beredter“ Zeuge seelischer Konflikte so oft schon tief ergriffen. Diese zwingende und starke Atmosphäre läßt uns die große Bedeutung der sichtbaren Dinge im Spielraum des Films erkennen. Sie sind ureigenstes Ausdrucksmittel der Filmkunst. Dem Theater sind sie fremd: Der Schauspieler spricht. Seine Gegenwart macht die leblosen und stummen Dinge seiner Umgebung lebloser und stummer. Sie sind nur Beiwerk, denn das Dichterwort kommt nicht aus ihnen. Im Film sind die Gebärden stumm. (Auch im Tonfilm steht die Sprache der Geste über der Sprache der Worte.) Darsteller und leblose Dinge befinden sich auf gleicher Basis. Sie sind gleichwertige Ausdrucksmittel, Sichtbarkeit und Durchsichtigkeit des Filmspiels.
Seelische Spannungsmomente von besonderer Tragweite glaubt man bisweilen durch eine unnatürliche, extreme Bildkomposition betonen zu müssen. So schoben sich in dem Film „Phantom“ durch ineinander kopieren zweier realer Bildausschnitte die nächtlichen Giebel einer Gasse über einen Verzweifelten zusammen. Aber statt der beabsichtigten, intensiven Steigerung des Mitempfindens musste das technische Interesse an dieser Szene überwiegen, da ja der ganze übrige Teil des Films auf „reine, natürliche“ Wiedergabe eingestellt war.
Vor allem wird ein Film dann den Schein der Naturwahrheit aufgeben und zu freier Gestaltung seines Spielraumes schreiten, wenn sein Stoff im Phantastischen und Unheimlichen liegt. Die Atmosphäre eines solchen Films wird nur dann und so lange unheimlich auf uns wirken, als sie einen Vergleich mit jener Natur aushält, die uns täglich umgibt. Unwahrscheinlichkeiten scheinen uns wahrscheinlich, solange deren Dunstkreis für uns luftähnlichen, „einatembaren“ Stoff darstellt. Diese spezielle Atmosphäre darf fermer nicht nur einem bestimmten Schauplatz des Films eigen sein, sämtliche Teilbilder müssen sie in gleicher Weise ausstrahlen.
Solche und ähnliche Ueberlegungen mögen schon frühzeitig einer überaus interessanten, einzigartigen Filmschöpfung Anlass gewesen sein: „Das Kabinett des Dr. Caligari“. Vor mir liegt eines seiner typischen Filmbilder: Jahrmarktszene, Schaubuden, Karusselle, Häuser unwirklich, grotesk verzerrt. Trotz offensichtlich
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gemalter Prospekte sind sie kein Bühnenbild, denn die „Kulisse“ ist selbst in kürzesten Montagestücken Ausdruck seelischer Zustände. Das Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt aber konnte nicht als Einheit empfunden werden, befanden sich doch Darsteller und Umgebung in zwei verschiedenen Dimensionen, im „Organischen“ und „stilisiert Ornamentalen“. Darin liegt eine Begrenzung in dem Gestalten fantastischer Stoffe: Der Film kann seinen Spielraum „expressionistisch“ umformen, die Spieler bleiben dennoch dasselbe, was sie sind: Menschen. Diese einmal vorhandene Realität des Darstellers läßt sich nicht durch übertriebene Maske, Optik, Licht und Schminke überbrücken. So muß also mit den wirklichen und greifbaren Dingen in der Umgebung der Filmgestalten ein Gleichnis geschaffen werden, das und das explosiv Spannende, Geheimnisvolle, Übernatürliche ihres Raumerlebnisses zu erkennen gibt. Was in „Dr.Caligari“ schiefe Wände und gemalte Zerrbilder besagen wollen, entnehmen wir jetzt der wirklichen Welt. Hierin besteht der Unterschied: Nicht unsere Häuser und Dächer sind schief, nicht die äußeren Mittel dekorativer Filmbauten verzerrt – unsere Filmkamera s i e h t durch bewusste Einstellung Gerades schief, unsere Zerrlinsen, Prismen, Schleier, Spiegel etc. verwandeln den Naturraum in ein Sinnbild latenter Geheimnisse. Diagonalen und Winkelfüllungen der Bildfläche, Umspringen der Kamera, Auflösen materieller Erscheinungen, Bewegungen außerhalb unserer Begriffe von Horizont und Schwergewicht geben dem Gewohnten ein ungewöhnliches Gesicht. Neue Ausdrucksmöglichkeiten schaffen eine neue, filmische Atmosphäre.
Endlich gibt es noch eine andere phantasiereich gestaltete Filmatmosphäre: Sie ist ebenso unwirklich, voll Erscheinungen, die uns im täglichen Leben nicht begegnen. Doch statt uns an geheimnisvollen Vorgängen unheimlich zu erregen, empfinden wir eine Art traumhaft-behaglichen Geborgenseins: Märchenfilme. In solchen Filmen haben wir, wie in Träumen, das Unwahrscheinlichste selbstverständlich hinzunehmen. Es muß daher eine Distanz zu den greifbaren Dingen unserer Umgebung eingehalten werden, was nur durch typisch bildhaften Charakter, starke Ornamentierung und Stilisierung erreicht werden kann. Unseren Betrachtungen über den Caligarifilm entsprechend aber wäre ein derartig gestalteter Spielraum hinfällig, wollten organische Wesen darin wirken. So schuf sich die Filmkunst
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Darsteller, die ebenso unorganisch, stilisiert, ornamental sind wie ihre Umwelt: Scherenschnittfigurinen, Figuren aus plastischem Material, Zeichenfilm-Blätter. In Lotte Reinigers prächtigem Film „Abenteuer des Prinzen Achmed“ werden wir von der Vorstellung getragen, das Schicksal organischer Fabelwesen vollziehe sich in einer für sie unmittelbaren, eigenen, organischen Welt. Zugleich aber erkennen wir die besondere Eigenart dieser Filmgattung: Sie vermag direkt aus der Phantasie neue Raumbegriffe zu schaffen, denn Ausdrucksformen der bildenden Kunst werden hier „lebendes“ Bild.
Die filmische Atmosphäre gibt den toten Dingen des Raumes Bewegung. Der Raum muß schwingen, fließen, beben, umhüllen, stürzen und entblößen. Nur so wird er die Erschütterung der Wesen lebendig machen.
(Transkript des maschinenschriftlichen Manuskripts: Dr. Karin Koschkar, 2023, Original befindet sich im Besitz der Erwin und Gisela von Steiner-Stiftung, Nachlass Gisela von Steiner)